Und als Milena das Elend der Menschen sah, entschied Sie sich, sich als Ihresgleichen unter sie zu mischen. Und so gab Sie Ihre Engelsmacht fort und stieg herab auf die Erde, in einen Landstrich, der Ihr der Trostloseste und Verlassenste schien. In diesem wilden Land entsprang Sie als alte Frau, gekleidet in Lumpen, einem Haselnussstrauch. Inmitten von weglosen Sümpfen brachte Sie Milena, das Kind, zur Welt. Mit dem ersten Atemzug des Kindes tat die Alte ihren letzten. Für Stunden lag Milena dort, nackt, schutzlos, das wehrloseste Wesen unter dem Antlitz des Herrn.
Als die Nacht hereinbrach, wurde der Schmied Albin, der von seiner Erzgrube nach Hause zurückkehrte, auf Sie aufmerksam. Knurrende Wölfe, die das weinende Kind umschlichen, hatten ihn angelockt. Er vertrieb die Wölfe und brachte Sie in seine warme Schmiede in einem Dorf im Norden des Moores. An der Stelle aber, an der Sie geboren war, inmitten des Sumpfes, steht bis heute ein Stein, der aussieht wie eine alte Frau.
Nachdem Sie aufgebrochen war aus ihrem weltlichen Heim, um Trost und Weisheit zu verbreiten unter den Menschen, kam sie als erstes in ein kleines Dorf. Auf dem Dorfplatz, sitzend im Dreck und in Lumpen gehüllt, saß einer. Die Dorfleute warnten Milena, in ihm wohne der Fünfgeschwänzte. Sein Blick und seine Gedanken seien nicht in dieser Welt.
Doch Milena ging hin zu ihm, und hob ihn auf, und strich die wirren Haare aus seinem Gesichte. Und als ihre Hand seine Stirne berührte, da wurde sein Blick klar. Er sah Milena in die Augen und sprach: „Ich sehe Dich!
Mein Geist war klar, doch der Schritt in die Welt der Menschen wollte mir nicht gelingen. Alles war verdunkelt wie durch schwarzen Musselin. Ich danke Dir dafür, dass Du den schwarzen Stoff zerrissen hast!“
Und er fiel auf die Knie und küsste Milenas Füße. Sie aber schloss ihn in ihre Arme, und sprach: „Nicht ich habe den schwarzen Schleier zerrissen, sondern Seine Kraft war es. Ich werde Dich waschen und speisen, und hernach sollst Du mir folgen auf meiner Reise zu den Menschen.“
Veit lachte und war froh.
Und es begab sich, dass in dem kleinen Flecken Nordmoor im Norden Nebelheims, in dem Milena einst zur Welt gekommen, ihr Ziehvater an einer Seuche erkrankt war, und keiner der Heilkundigen, die kamen, um ihm zu helfen, konnte das Fieber senken. Und so verglomm langsam das Licht des Lebens in den Augen des tapfern Schmieds, und er wollte als letztes noch einmal seine Milena, die er an Tochters Statt angenommen hatte, sehen.
Dann jedoch raffte sie ihren Umhang dichter um sich und machte sich auf in den dunkeln Wald. Als sie nach einer Stunde wiederkehrte, hatte sie eine ganze Schürze mit frischem Eismoos gesammelt. Die vielen Heilkundigen lachten sie aus, mit Kräutern, die auf Felsen wüchsen, sei ihr lieber Ziehvater nicht mehr zu retten. Ob des bitteren Spotts weinte Milena heiße Tränen, die auf das Moos fielen.
Darauf machte sie sich stumm daran, aus dem Moos einen Tee zu brauen, den sie ihrem Vater einflößte. Und noch während die Heilkundigen sie verspotteten, schlug Albin die Augen auf, und noch bevor die Nacht vergangen war, war Albin völlig gesundet. Die Heilkundigen jedoch jagte er mit Schimpf aus seinem Haus.
Der jüngste der Heilkundigen jedoch, der nicht gelacht hatte, klaubte heimlich die letzten Reste Moos auf und verbarg sie sorgsam in seinem Gewande. Er wurde hernach ein geachteter Heiler, der sogar ein mal die Pest mit einem Trank aus Moos zu bezwingen im Stande war. Seither sagen die Leute, wenn jemand schwer krankes doch noch überraschend gesundet, er habe seinen Kopf in Milenas Schoß gelegt – nach dem Kraut aus Ihrer Schürze.
Eines Morgens, Milena saß mit den Scholastikern beim Mahl, musste Veit zurück in seine Heimatstadt. Er war niedergeschlagen und klagte laut, er würde Milena und Ihre Lehre vermissen, und frug: Wie soll es weiter gehen mit meinem Seelenheil? Milena sei nicht mehr bei ihm, wie sollte er dann wissen, was zu tun?
Milena aber hieß ihn, gut acht zu geben. Zum Entsetzen ser Scholastiker nahm sie ein scharfes Messer und trennte ihren linken Zeigefinger ab. Die Hand barg sie in einem Tuch, den Finger aber legte sie vor sich auf den Tisch. Dann ließ sie eine Träne in einen silbernen Kelch fallen. Beides bot Sie den verwirrten Scholastikern zur Speise an. Aber siehe, als sie den Finger nahmen, war er wunderbares Brot und in dem Kelch war bester Wein, der einen berauschenden Duft verströmte. Milenas Hand aber war wieder ganz.
Und Milena sprach, sehet, so wie ihr von mir gespeist und getrunken habt, so habt ihr auch von mir gelernt. Gleich meinem Finger und gleich meiner Träne, so habt ihr auch meine Lehre in euch aufgenommen. Und wo ihr auch hingeht, meine Lehre und ich werden euch immer begleiten.
Da sah Veit, und er brach frohen Mutes auf in seine Heimat.
Viele Jahre gingen ins Land. Die Scholastiker gingen jeder ihren eigenen Weg, um den Glauben zu verbreiten: Anna legte die Brünne der Kriegerin an und verschrieb sich dem Kampf in den Sümpfen im Süden gegen die Brut des Fünfgeschwänzten. Silvanus war aufgestiegen in den Rat der Stadt der Sieben Türme, um den Glauben von oben zu streuen. Veit nahm sich ein Weib und zeugte eine große Kinderschar, der sich bereits die ersten Enkel zugesellten. Marcus hatte sich in eine Klause im dunklen Forst zurückgezogen, um den Glauben zu studieren und durch Meditation zu verinnerlichen.
Als sich der Tod Milenas zum sechzehnten Male jährte, trafen sich die vier wie in jedem Jahr bei einem der ihren. In jenem Jahr war die ärmliche Hütte von Markus am Rande Einhornwalds der Ort, an dem sie zusammenkamen, um Ihrer zu gedenken.
Nacheinander trafen sie ein: Anna auf hohem Ross in glänzender Rüstung, Silvanus in einer mit Seide gepolsterten Kutsche, und Veit mit einem Wagen, der überquoll vor Lachen und Weinen. Marcus wartete auf der Lichtung vor seiner Hütte, und hieß alle willkommen: „Seid gegrüßt in Seinem und Ihrem Namen. Lasst uns ihrer Gedenken, die ihr Leben gab, für unseren Glauben.“
Und weil seine Vorratskammer klein und viele Mäuler zu stopfen waren, setzte Marcus einen großen Kessel mit Haferbrei aufs Feuer – auch war es, um Trauer und Gedenken nicht zu dämpfen durch einen vollen Magen und einen trägen Geist.
Als der Abend später wurde, und der Himmel dunkel, da wurde es still um die Klause im Wald. Das Pferd graste auf der Lichtung, die Kutscher schliefen auf dem Bock, und die Kinder waren mit der Mutter ins Bett gegangen.
Doch am Tisch in der Hütte wurden die Stimmern laut. Die vier stritten heftig, welches der wahre Weg zum Glauben sei.
Anna sprach: Wir müssen den Glauben gegen den Fünfgeschwänzten mit dem Schwert verteidigen und Ihre Feinde erschlagen!
Veit entgegnete: SIE hat nie das Schwert ergriffen, nur friedlich können wir ihrem Vermächtnis gerecht werden. Wir müssen uns dem Volk zuwenden, wie SIE es getan hat und unserer Nachkommen werden es weiter tragen.
Nur wenn die Herrscher fest im Glauben stehen, kann das einfache Volk folgen, warf Silvanus ein. Da widersprach Markus: Nur wer seinen Geist läutert und aller Ablenkung abschwört, wird Ihre Botschaft wahrhaft verstehen und weitertragen können.
Ein jeder dachte sich besser als den anderen, und manches heftige Wort gab das andere.
Nach Stunden des Streits waren sie aufgesprungen, Krügen zerbrachen, Fäuste wurden geschüttelt, und der Tisch erzitterte unter empörten Schlägen. Nicht weit war es, da wären sie sich an die Gurgel gegangen, als ein goldenes Licht durch die Ritzen der Türe drang. Lauter noch als der Streit war das Krachen des eichenen Türblatts, als es aus einen Angeln gerissen wurde, und der Riegel barst.
Und herein kam eine Frau, schön wie der junge Tag, umgeben von goldenem Licht, die Schwingen ausgebreitet wie vierzig Schwäne, ihr Haar reichte ihr bis an die Hüften. Sie lächelte, und sprach kein Wort. Sie küsste einen jeden der vier, und langsam nur drang die Erkenntnis durch den Schleier aus Streit und Verblendung. Tränen stiegen ihnen in die Augen, und sie warfen sich nieder auf den Boden, beschämt ob ihres Zwistes und verlegen in Ihrem Angesicht.
Milena wies sie, sich zu setzen, und setzte sich auch, und lächelte und sprach:
Ich habe euren Zorn gefühlt und habe den weiten Weg noch einmal gemacht. Es betrübt mich euch uneins zu sehen und ich möchte wissen, was euch entzweit. Ich möchte, dass der von euch spricht, der mehr erreicht hat als die anderen.
Gerade als ein jeder aufspringen wollte um das Wort zu ergreifen, sahen sie ihr Lächeln und sanken beschämt zurück auf ihre Stühle. IHR glockenhelles Lachen ließ ihnen die Schamesröte ins Gesicht steigen.
Milena sprach:
Wie seid ihr doch verblendet. All eure Pfade führen zu mir! Und doch führt kein Pfad zu mir. Eure Verwirrung scheint groß, und so will ich euch zeigen, was ich euch nicht erklären kann. Geht nun ins Bett, doch morgen gebt ein Fest zu meinen Ehren. Und Anna wird die Brünne ablegen, und Silvanus die Seide, und Marcus wird Veits Kinder hüten. Und ihr werdet gleich sein. Ein jeder Zweifaltige ist, wenn er geboren wird und wenn er stirbt gleich vor Ihm und mir. Und ihr werdet sehen, ein jeder Pfad ist gleich breit. Wenn ihr die Pfade zu einem Weg macht, wird er breit genug sein, dass alle darauf gehen können. Und er wird zu mir führen.
Die vier weinten, und reuten ihren Streit, und dankten Milena für diese Worte. Und sie wurde goldenes Licht, und verließ ihre Mitte.
Am nächsten Tage aber taten sie, wie ihnen geheißen. Anna kochte, Silvanus hackte das Holz, Veit studierte die Bücher und Marcus zeigte den Kindern einen Bach, in dem die Fische spielten. Es gab ein großes Festmahl, und alle feierten gemeinsam, und lachten gemeinsam, und der Unterschied zwischen ihnen war fort.
Wiederum zu später Stunde saßen die vier am selben Tisch wie am Abend zuvor. Doch dieses Mal waren sie erfüllt von Freude und Glauben, wie nicht mehr seit Milenas Tod. Und sie begriffen: Nicht der Pfad des einzelnen, wie groß die Schritte auch seien mögen, führt zu Ihm und Ihr, sondern nur der gemeinsame Weg konnte zum Ziel führen. Und sie beschlossen, ihre Pfade zu einem Weg zu schmieden. Und sie erzählten einander, was sie erlebt hatten, und woran sie scheiterten, und spendeten sich Trost und Rat und Ermunterung.
Sie beschlossen, die Worte jenes Abends niederzuschreiben, um sie zu behalten bis zum nächsten Jahr, wenn das nächste Treffen käme. Und ein jeder schrieb ein fünftes Blatt, das war für Milena. Und als ein jeder die Briefe der anderen faltete und an seinem Herzen barg, da kam das goldene Licht noch einmal, und hob die fünften Briefe auf, und hob sie davon.
Dieses Gedicht, von Claudius, behandelt ebenfalls das Erste Sendfest.